vom 16.01.2023

Der nackte Naturapostel und die Nazis

Konrad Kurzrock verstarb 1945 im Siegburger Gefängnis

Siegburg. 1944 und 1945 ist das Siegburger Gefängnis übervoll mit politischen Häftlingen aus ganz Europa. Nicht jeder, der hier einsitzt, ist als Widerstandskämpfer gegen das NS-Regime auffällig geworden. Den Totalitarismus zeichnet aus, dass er jedwede Überschreitung der herrschenden Ideologie mit Haft oder Mord beantwortet. Ganz sicher gehört Konrad Karl Kurzrock in letztgenannte Kategorie der Unangepassten.

Kurzrock wird im Jahre 1881 im nordhessischen Bauerndorf Oberellenbach geboren und wächst zusammen mit neun Geschwistern auf. Nach seiner Schulzeit beginnt er eine Lehre als Kaufmann, ist nach eigener Aussage schwächlich und leidet unter starken Brust- und Kehlkopfbeschwerden. Hilfe findet er bei den Natur- und Vegetariervereinen und propagiert fortan ein Leben ohne Alkohol, Tabak und Fleisch. 

1898, mit gerade mal 17 Jahren, verfasst er seine erste Broschüre mit dem Titel "Das natürliche Geschlechtsleben". Bis 1906 folgen weitere Veröffentlichungen. Mit Publikationen wie "Der Mensch und das Paradies oder wie soll der Mensch leben?" bzw. "Wie lebt der Mensch in Gottes freier Natur?" verbreiten sich seine religiös-lebensreformerischen Ideen. 

Ab dem Sommer 1902 wandert er, teilweise mit dem damals schon sehr bekannten "Naturmenschen" Gustaf Nagel, durch Deutschland. Die Tagespresse, die ausführlich berichtet, nutzt immer das biblische Adjektiv "adamitisch". Heißt: Er wandert fast oder ganz nackt. Wo er auftaucht, erregt er Aufsehen. Die Berichterstatter notieren verwundert, dass seine Nahrung nur aus Obst, rohem Kohl, Rüben und Steckrüben sowie klarem Wasser besteht. Die Polizei sieht sich des Öfteren genötigt, den spärlich bekleideten Mann wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses auf das Polizeirevier zu führen. 

Seine Vortragsreisen, die er durch den Verkauf von Heften und Bildpostkarten finanziert, führen von Deutschland nach England, Palästina und Ägypten. In Gizeh eröffnet er ein eigenes Fotostudio und lebt von den Aufträgen der damals schon sehr zahlreichen Pyramidenbesucher. Sein Berufswechsel bringt neue Konflikte mit sich. Bei einem Streit mit seinem österreichischen Kompagnon, der ebenfalls Aufnahmen des Weltwunders anfertigt, wird Kurzrock 1909 durch einen Messerstich lebensgefährlich verletzt. 1913 ist er in eine handgreifliche Auseinandersetzung mit einem ägyptischen Kollegen und der herbeigerufenen Polizei verwickelt. Man wirft sich gegenseitig das Abwerben von Kunden vor. Das Ergebnis dieses Streites ist für Kurzrock die Verurteilung zu acht Tagen Gefängnis. 

Der Erste Weltkrieg beendet Kurzrocks Ägyptenaufenthalt. Seine Spuren, die aktuell vom hessischen Heimatforscher Rainer Scherb für ein Buch verfolgt werden, finden sich 1923 wieder, da fotografiert er in Wiesbaden. In Annoncen firmiert er nicht unbescheiden als "Weltbereister Meisterphotograph", der fünf Sprachen spricht und als "Photograph des rumänischen Hofes" Erfahrung gesammelt habe. 1924 ist er für wenige Wochen nochmals in Ägypten und arbeitet für die ägyptische Zeitung "The Sphinx" als Sportfotograf, bevor er sich endgültig in Wiesbaden niederlässt. 

Sein Atelier befindet sich an bester Geschäftsadresse, den Kurhauskolonnaden. Bis 1933 scheitern zwei Ehen, er wird Vater einer unehelichen Tochter. Autor Scherb hat auch hierzu recherchiert und berichtet: "Eine Fotografie zeigt ihn als eher unauffälligen Herrn mit Anzug und Krawatte. Ob seine früheren Ideale der Lebensreform, des Vegetarismus und Alkoholverzichtes in dieser Lebensphase für ihn noch eine Bedeutung hatten, lässt sich nicht mit Bestimmtheit sagen. Belegt ist jedoch ein Kontakt mit dem Lichtschulheim Lüneburger Land in Glüsingen, einem reformpädagogisch, vegetarischen Schulprojekt, das zwischen 1927 und 1933 bestanden hat."

Sind es seine Auslandsaufenthalte oder hat er möglicherweise Fotos am falschen Ort aufgenommen? Im August 1933 wird er unter der Anschuldigung, Spionage getrieben zu haben, von der Gestapo in Frankfurt festgenommen. Da die Akten 1945 vernichtet wurden, bleibt unklar, ob diese Anklage für ihn zu unliebsamen Konsequenzen geführt hat. 

1938 zieht Kurzrock von Wiesbaden nach Köln und wird im Adressbuch 1940/41 unter der Rubrik "Photobedarf und Rahmenfabrik" geführt. Ein Jahr später, im April 1942, wird er wegen eines Sittlichkeitsverbrechens zu acht Jahren Zuchthaus und zehn Jahren Ehrverlust verdonnert. Seine Strafe verbüßt er in Siegburg, in der Strafanstalt an der Luisenstraße 90. Wie hunderte Mitgefangene stirbt er kurz vor Kriegsende am Fleckfieber, am 24. März 1945 um 4 Uhr morgens, wie dem im Stadtarchiv verwahrten Sterbebuch zu entnehmen ist.

Für den Forscher Scherb, der aus Kurzrocks Heimat im Nordhessischen stammt, bleiben Fragen offen. Für ihn steht der Pauschalvorwurf des "Sittlichkeitsverbrechens" ohne nähere Erklärung im Raum. "Mir bleibt als Biograf nur zu hoffen, das über diesen Gerichtsprozess damals in der regionalen Tagespresse berichtet wurde." Dem Auftrag geht das Siegburger Stadtarchiv in den nächsten Tagen anhand alter Zeitungsbände nach.

Foto: Hollywood? Nein! Real life. Konrad Kurzrock posiert im Jahr 1906 vor der Kamera, hinter ihm die Pyramiden von Gizeh. 

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