vom 29.05.2022

Lebensrettung in Braschoß

Spektakuläres Interview mit Siegburger Jüdin im Netz aufgetaucht

Siegburg. Die Gesichter sind ihr fremd. Die Geschäfte, in denen sie ein und aus ging, gehören Unbekannten. Die Stadt hat sie vergessen. Nur der Zungenschlag, das Platt aus "Siebursch", erinnert sie an ihre Kindheit und Jugend. 

Wir schreiben das Jahr 1958. Anna Green, geborene Lichtenstein, kehrt vom buchstäblich anderen Ende der Welt zurück nach Siegburg. 1939 ist sie nach Australien emigriert. Gerade rechtzeitig. Sie ist Jüdin, noch vor der Verfolgung konnte sie nach Melbourne fliehen. Was mit Mutter Henriette Lichtenstein geschah, weiß sie zu diesem Zeitpunkt nicht, wird es wahrscheinlich nie erfahren. Heute wissen wir: Henriette Lichtenstein wurde am 19. September 1942 in Treblinka ermordet.

Es ist ein glücklicher Zufall, eine Google-Suche auf gut Glück, die eine der spannendsten Lebensgeschichten zutage befördert, über die wir in diesem Newsletter je berichtet haben. Während der Arbeit an der Broschüre zu den Personen hinter den Siegburger Stolperstein entdeckte Stadtarchivar Jan Gerull eine bislang in Siegburg unbekannte Quelle. Anna Green, die früher Lichtenstein hieß, hat ihr Leben 1984, mit 75 Jahren auf Band gesprochen. Achtmal 45 Minuten, aufgezeichnet in ihrer neuen Heimat Australien und später dem "United States Holocaust Memorial Museum" zur Verfügung gestellt, die es auf ihrer Internetseite veröffentlicht hat. Frei zugänglich für jedermann.

Anna Lichtenstein wird 1909 geboren und wächst in der Holzgasse auf. Vater und Mutter stellen Berufsbekleidung für Metzger und Bäcker her, traditionelle Strickumhänge für den Winter. Die Familie ist "nicht religiös, aber umgeben von einer religiösen Atmosphäre". Jeden Freitag wird der Sabbat an der langen Tafel von Onkel Moses Walter, einem der prominentesten Siegburger Juden, eingeläutet. Anna besucht die Höhere Töchterschule, den Vorläufer des Gymnasiums Alleestraße. Zum Religionsunterricht in die jüdische Schule an der Synagoge geht sie nur einmal. Sie hat ein Schinkenbrot dabei. Lehrer Seelig ist das nicht koscher, es versetzt ihr einen ordentlichen Klaps auf den Po. Ihr Vater Adolf befreit sie von weiteren Lektionen. "Wo geschlagen wird, ist mein Kind nicht zu Hause." Er ist nicht nur Befürworter der Erziehung ohne Gewalt. Er ist außerdem überzeugter Demokrat und daher einverstanden mit dem Weg Deutschlands nach 1918. Als sich die Weimarer Republik kurz beruhigt, im Jahr 1925, stirbt er.

Anna Lichtenstein lernt bei den Gebrüdern Alsberg, dem Konfektionsgeschäft in der Bahnhofstraße. Verkaufen, das ist ihr Ding. Mit dem Wechsel zum Großkaufhaus Tietz in Köln eröffnet sich ihr eine neue Welt. Sie bedient in der Seidenabteilung die Adenauers und Mülhens, Besitzer von 4711. Kölsche High Society. Bald ist sie mehr am Dom als am Michaelsberg, hat hier wie dort ein Zimmer. Durch familiäre Beziehungen ist sie häufiger in den Niederlanden, hat dort Freunde und Freundinnen. 

Die Nazis marschieren. Einstige Schulkameraden in Siegburg grüßen sie nicht mehr, gehen verschämt in SA- oder SS-Uniform an ihr vorbei. Dann eine Fahrradtour nach Braschoß im Jahr 1938. Ein ausgelassener Sommernachmittag, die Gaststätte ist voll. Es kommt zu einer schicksalhaften Begegnung. Die Wirte-Familie Pohl kennt Anna Lichtensteins Großvater, berichtet wie beiläufig vom Glücksritter Jakob Pohl, den es nach Australien verschlug. Einige Wochen später liegt, wie aus heiterem Himmel, ein Visum für Australien in ihrem Briefkasten. Jakob Pohl hat von der Braschosser Verwandtschaft erfahren, dass "ein ekliger Kerl in Deutschland an der Macht ist". Er spricht mit seinem Schwiegersohn, der kennt den australischen Premierminister. Die "Permit", die Erlaubnis für Annas Auswanderung, wird auf den Weg gebracht. In Holland schifft sie sich ein, Colombo auf Ceylon ist die Zwischenstation, über die sie den fünften Kontinent erreicht. Dort ist es September, Spätwinter. Die Bedingungen bei den Pohls sind einfach, keine Heizung. Sie friert. Sie schlägt sich als Haushaltshilfe durch, lernt Alfred Green kennen. Jude aus Warschau, lange in Leipzig als Pelzhändler aktiv, 1925 nach Australien gegangen, weil man hier mit begehrter Opossumhaut gute Geschäfte machen kann. Sie heiraten 1943, versorgen die alliierten Truppen mit Kaninchenfellen für deren Wintermäntel, ziehen 1945 einen Pelzhandel mit mehreren Standorten auf. 

1958 verdreht sich Anna beim Fußballspielen mit ihrem Pudel das Knie, laboriert Monate an der Verletzung und macht sich deshalb auf, um sich in Bad Oeynhausen behandeln zu lassen. Den Kurort am Wiehengebirge kennt sie aus Kindertagen. Die Ärzte leisten ganze Arbeit. Nach zwei Wochen geht sie tanzen. Während ihres Aufenthalts fährt sie die 200 Kilometer nach Siegburg, es kommt zur eingangs geschilderten Szene. 

In der Heimatstadt ist für sie nichts mehr, wie es war - kann es wahrscheinlich auch nicht sein. Die Menschen, die ihr lieb und teuer waren, sind tot oder über den Erdball verstreut. Nie, so sagt sie der Interviewerin im 1984er Gespräch, habe sie in Australien ein deutsches Auto gefahren. Nur Anschaffungen für die Küche waren "Made in Germany". Ganz kurz beschäftigte sie ein deutschstämmiges Hausmädchen, bis es klaute und fristlos entlassen wurde. Anna Green schildert das nüchtern. Als Kapitel, das abgeschlossen ist. "Siebursch" belongs to history.

Fotos: Die Alsberg-Belegschaft in der Bahnhofstraße, das Foto ist undatiert. Klein: Mutter Henriette Lichtenstein, umgebracht in Treblinka. Von Anna, deren Todestag wir nicht kennen, liegt kein Bild vor.

Zum Interview aus dem Jahr 1984

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