vom 15.02.2022

Im Auge des Shitstorms

Gymnasium Alleestraße erlebte zwei turbulente Wochen

Siegburg. Eigentlich zu schade fürs Spätabendprogramm war die kürzlich ausgestrahlte ARD-Miniserie "Legal Affairs" um die Berliner Medienanwältin Leonie "Leo" Roth, gespielt von einer glänzenden Lavinia Wilson. Im Kern geht es um die gesellschaftliche Dauerempörung auf Social Media, um die Unvorhersehbarkeit und Wucht von Shitstorms und um die nicht immer anständigen Versuche der Kanzlei, den gegen die Mandantschaft gerichteten Entrüstungssturm zu bändigen oder auf neue Ziele umzulenken. Was bleibt ist die Erkenntnis: Jeder und jede kann ins Kreuzfeuer der Hasskommentare geraten.

Lange Vorrede, kurze Überleitung zum Gymnasium Alleestraße: 1. Februar 2022, Philosophieunterricht in der Einführungsphase, eine unglücklich gewählte Aufgabenstellung, die die Begriffe "Zwangsheirat" und "türkischer Vater" in einem Atemzug nennt. Keine Aufgabe, die sich der Lehrer selbst ausdenkt. Sie steht in oben abgebildetem Lehrbuch.

Der Arbeitsauftrag wird von einem Kind oder seinen Eltern abfotografiert und landet erst bei einem Solinger Anwalt, dann auf den deutschsprachigen Internet- und Social-Media-Auftritten des türkischen Senders TRT. Der erste Aufschrei ist da. Die Schule erhält bitterböse Anrufe, Schmäh-E-Mails, heftige Beleidigungen auf ihrer Instagramseite. Direktorin Sabine Trautwein und ihr Team reagieren unmittelbar: Niemals habe man Klischees bedienen wollen, seit 20 Jahren engagiere man sich als Mitglied im Netzwerk gegen Rassismus. Wenn sich jemand durch die Aufgabe, die in einem größeren Kontext über die Komplexität des Zusammenlebens verschiedener Kulturen gestellt wurde, herabgewürdigt gefühlt habe, dann entschuldige man sich in aller Form. 

So steht es an Tag zwei auf Instagram, auf der Schulhomepage, so wird es auch in einer E-Mail an die Eltern formuliert. Eine gute Krisenkommunikation. Trautwein berichtet eine Woche nach der kritisierten Unterrichtsstunde im Schulausschuss der Kreisstadt. Gegenüber der Islamischen Gemeinde in Siegburg zeigt sie sich offen für ein Gespräch. Gerne könne man sich an einen Tisch setzen. Am Rande die Information: Rheinländerinnen und Rheinländer mit Migrationshintergrund - um eine arg strapazierte, aber in diesem Kontext wohl passende Vokabel zu nutzen - gibt es am Gymnasium bei den Schülerinnen und Schülern und bei den Lehrerinnen und Lehrern. In der Flüchtlingskrise leistete die Einrichtung Vorbildliches bei der Integration neuankommender Kinder. siegburgaktuell-Abonnenten müssen wir das nicht erklären. 

Kurz und heftig ist die Welle. Berechtigte Hoffnung zur Annahme, der erste Wirbel bleibe der einzige, besteht, da es nicht zu einem unmittelbaren Übersprung von den sozialen auf die etablierten Medien kommt. Nach anderthalb Wochen passiert das dann aber doch. Am Freitag schreibt uns Schulleiterin Sabine Trautwein: "Aufgrund einer Anfrage der Föderation Türkischer Elternvereine NRW bei der Bezirksregierung und dem Schulministerium ist die Bild-Zeitung auf den Vorfall aufmerksam geworden und erwägt am Wochenende eine Berichterstattung."

Aus der Erwägung wird ein Artikel, aus einem Artikel werden Dutzende. Express, RTL und WDR, Focus, Rheinische Post und General-Anzeiger. Wenn auch die Berichte um Abwägung des Sachverhalts bemüht sind, die Schule nicht ausdrücklich an den Pranger gestellt wird, so bleibt die Verbindung "Gymnasium Alleestraße und Rassismus". Als wir gestern Nachmittag zur moralischen Unterstützung in die Schule eilen, gibt es kein anderes Gesprächsthema. Die Stimmung liegt irgendwo zwischen Fassungslosigkeit, Verunsicherung und Kampfeslust. Sabine Trautwein telefoniert nicht mehr nur mit der Stadt und der Bezirksregierung. Mittlerweile ist das Ministerium in Düsseldorf am Apparat - eine Stufe unter Staatssekretär. Siegburg wird zum Politikum. Das corpus delicti, das Schulbuch, so der Stand von gestern Abend, soll überarbeitet werden. 

Im Netz laden unterdessen beide Seiten nach. Diejenigen, die der Schule Rassismus vorwerfen, treffen jetzt auf die, die sich über die Entschuldigung und das angeblich falsche Zurückrudern aufregen. Gesellschaft unterm Brennglas. Sekretärin Gerdemie Stiefel ist sturmerprobt. Sie wirkt an diesem Nachmittag wie ein Fels in der Brandung, hat ihren Humor nicht verloren. Schelmisch sagt sie: "Auf das Anmeldeverhalten hat die Geschichte bislang keinen Einfluss." Ihre Laune ist ansteckend. Wenigstens ein bisschen. Bei all dem Stress kann auch Chefin Trautwein sagen: "So viel mediale Aufmerksamkeit würden wir uns bei unseren geplanten Schulprojekten wünschen."

Überhaupt nicht in Vergessenheit geraten sollte der Lehrer, in dessen Unterricht der Stein ins Rollen geriet. Wir erfahren, dass ihm die Turbulenzen zugesetzt haben. Er hatte am 1. Februar seinen ersten Arbeitstag am Gymnasium Alleestraße.

Gymnasiums Alleestraße

ARD-Mediathek: "Lega Affairs"

Kontakt

Stadtverwaltung Siegburg
Nogenter Platz 10
53721 Siegburg

+49 2241 102-0
+49 2241 102-1284
rathaus@siegburg.de
https://siegburg.de

Newsletter

Anmeldung
Jetzt für unseren täglichen Newsletter anmelden.


Newsletter-Archiv

Oben