vom 13.02.2021

Krieg und Frieden

Ein halbes deutsches Jahrhundert in einer Geschichte

Siegburg. Dies ist eine Geschichte, die in Siegburg und Königswinter spielt. Aber nicht nur. Sie behandelt Deutschland und die Deutschen im 20. Jahrhundert. Sie handelt von der Anpassung an die Verhältnisse und dem Streit über die Vergangenheit, vom großen Schweigen über große Fehler, vom Mut und dem Eintreten für den Frieden.

Wir beginnen 1966, im neugebauten Berufskolleg auf der Zange. Im Religionsunterricht lässt Lehrer Gerhard Bennertz, 28 Jahre jung, die Tisch- und Sitzordnung ändern. Keine Reihen mehr, kein sturer Geradeausblick auf den Lehrer. Er formt ein U. Jeder kann jeden sehen. Er will sich mit den Jugendlichen unterhalten, diskutieren. Krieg und Frieden, darum geht’s dem Protestanten, der geboren wurde, als Hitler Österreich anschloss. 

Die Schüler sind jung, für den Frieden beinflussbar. Sie wollen etwas tun. In Vietnam verstricken sich die Amerikaner, die den Deutschen mit vorgehaltener Waffe den Frieden aufzwingen mussten, in Lügen. Den Kommunismus, den sie eindämmen wollen, finden sie nicht. Dafür finden Tausende den Tod. 19-jährige GIs und 80-jährige vietnamesische Großmütter. Das Dröhnen der Helikopter und der Qualm der Napalmbomben dringen bis nach Siegburg. "Der Frieden muss bewahrt werden", sagen sich Bennertz' Schülerinnen Sabine Ringel, Brigitte Vester und Werner Heinze. 

Ringel geht voran. An ihrem Ausbildungsplatz in einem Siegburger Baustoffhandel sammelt sie Unterschriften für eine Resolution. Gegen das Gemetzel in Südostasien. Ringels Arbeitskollege August Müller ist ein halbes Jahrhundert älter als sie. Er verbietet ihr die Unterschriftensammlung. Und den Mund. Spricht von "kommunistischen Parolen". Oberkreisdirektor Kieras soll sich den Religionsunterricht von Gerhard Bennertz ansehen. Eine Untersuchung auf dem Wege der Schulaufsicht scheint angemessen. Weil am Ende sogar das politische Kommissariat der Bonner Polizei ermittelt und die Schüler verhört, stehen Ringel, Müller und Kieras bald darauf im "SPIEGEL". Das Nachrichtenmagazin aus Hamburg ergreift Partei für die jungen Leute und bringt sich gegen den Zeitgeist in Stellung. Es resümiert zufrieden, der "Kommunistensucher" aus der Hauptstadt habe die Akte "ohne Verdachtsmomente" schließen müssen.

Zeitsprung ins Jahr 1938. Jener August Müller ist bei der Kreisverwaltung beschäftigt, als er nach Königswinter beordert wird. Im dortigen Rathaus herrschen katastrophale Verhältnisse, der Chef der Verwaltung ist verhaftet und verurteilt worden. Ein Fachmann ist vonnöten. Müller wird Bürgermeister, amtiert offiziell bis 1944. Er steht der NSDAP-Ortsgruppe vor. 1938 ist jedes exponierte Mitglied einer Verwaltung in der Partei. "Königswinter wird im Laufe dieses Jahres judenfrei sein." Der Satz steht in einem Brief, der 1939 aus der idyllischen Rheinstadt an den Landrat geht. Unterzeichnet von Bürgermeister Müller. In Siegburg gibt es ein Amtspapier mit identischem Wortlaut. Wir haben unsere Hausaufgaben erledigt, wollen die Verfasser unterstreichen. 

Ist die besagte Unterschrift unter dem Brief eine von vielen am Tag? Hat Müller den Juden nicht geschadet, sondern ihnen geholfen, wie er später immer wieder angeben wird? Schriftlich überliefert ist die Hilfe nicht. Natürlich nicht. Wenn es sie gab, war es lebensgefährlich, Spuren zu hinterlassen.

Erneuter Zeitsprung, diesmal in den Januar 1995. August Müller blickt auf eine jahrzehntelange politische Karriere in der FDP zurück. Kreisvorsitzender der Liberalen war er, Vizelandrat dazu. Hat Siegburg bei der kommunalen Neugliederung unterstützt. Er ist Träger der Bundesverdienstkreuzes und des Silbernen Ehrenschilds der Kreisstadt. Als Dank vermacht er Siegburg seine Bibliothek. Sein Werdegang ist kein Geheimnis. Er nennt sich "Bürgermeister a.D.". Eine Rolle spielt die Zeit vor 1945 lange nicht. Dann doch. Es gibt politischen Streit um die städtische Ehrung zu seinem 90. Geburtstag. "Jubilar geriet wegen seiner NS-Vergangenheit in die Kritik" steht in der Zeitung. Es wird die Frage aufgeworfen: Kann ein solcher Mann gleichberechtigt neben Größen wie dem Siegburger Astronauten Ulf Merbold stehen? Die deutsche Geschichte als Politikum. Das gab’s und gibt’s bis heute. Der Jubilar sagt den Museumsempfang von sich aus ab. Bei seiner privaten Geburtstagsfeier, so ist der Lokalpresse zu entnehmen, gratulieren hochrangige Parteifreunde und Vertreter der Siegburger Stadtverwaltung. Im November 1997 stirbt Müller.

Wir haben Gerhard Bennertz gesprochen, den Lehrer aus dem Berufskolleg. Der Religionspädagoge ist seit den 1970ern in Mülheim an der Ruhr zuhause, versteht erst nicht, warum wir ihn wegen dieser alten Geschichte aus dem Jahr 1966 in Siegburg anrufen. Ja, die bedrängte Schülerin habe sich damals mit tränenerstickter Stimme bei ihm gemeldet. Insgesamt habe sie - habe auch er als Lehrer - großen Zuspruch erhalten. Krieg und Frieden sind bis heute sein Lebensthema. In Reihe aneinandergestellt, messen die Bücher, die er geschrieben hat, einen Meter. Am 5. Dezember 2017 porträtiert ihn die "Neue Ruhr Zeitung" mit folgenden Worten: "Gerhard Bennertz, der heute 80 Jahre alt wird, hat in den letzten 40 Jahren die Schicksale von 270 Mülheimer Holocaust-Opfern recherchiert und aufgeschrieben."

Foto: August Müller (l.) mit Bürgermeister Hubert Heinrichs bei der Einweihung des Siegburg Heimatmuseums 1960.

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