vom 18.06.2020

Von Tönnies zu Katjes

Philosophische Stunde zu Corona dauerte fast 150 Minuten

Siegburg. Zweimal musste sie in den letzten Monaten verschoben werden, die "Philosophische Stunde" mit dem Bonner Professor Martin Booms. Gestern Abend war endlich Premiere des neuen Formats. Corona stand auf der Agenda, aus der Stunde wurden fast zweieinhalb. Es gab viel zu reflektieren, tabuoffen zu diskutieren. Denn wenn es unserer Gesellschaft, an diesem Punkt herrschte Einigkeit auf den auseinandergerückten Plätzen im Museumsforum, derzeit an etwas fehlt, dann ist es eine Debattenkultur ohne automatische Zuordnung zum Lockdown- oder Lockerungslager, ohne Unterdrückung von Ansichten, die fest auf dem Boden der Ratio stehen, aber nicht zur jeweils vorherrschenden Parole passen.  Auch und gerade in einer Krise sollten alle Gehirnkanäle befahrbar bleiben, darf Kritik am politischen Handeln nicht zu sozialem Ausschluss oder gar Ächtung führen. 

Stichwort politische Führung: Trotz aller Widersprüchlichkeiten, Richtungswechsel und Alleingänge der Bundesländer - die typisch deutsche Vielfalt der Akteure und Aktionen sei andernorts, so Booms, als geradezu vorbildlich angesehen worden. "In Frankreich, wo die Einschränkungen für die Menschen wesentlich massiver ausfielen, hat man beinahe neidisch auf den flexibleren Umgang mit der Ausnahmesituation und das elastische Vorgehen in Deutschland geschaut."

Die Krise habe einen Brennglas-Effekt hervorgerufen, bekannte Problemlagen verschärften sich. Weil Mensch und Tier durch die Zerstörung des tierischen Lebensraums zusammenrücken, springt der Virus über. Weil Mensch und Mensch zusammenrücken, man nennt es Globalisierung, wird aus der Epidemie eine Pandemie. Weil wir Tag für Tag preisgünstiges Fleisch essen und dafür wenig ausgeben wollen, die Umstände in der Produktion entsprechend miserabel sind, findet die bislang unter dem Radar der Öffentlichkeit vollzogene Arbeitsmigration aus Osteuropa statt. Booms: "Dort, wo zwölf Leute in einer Dreizimmerwohnung leben, verbreitet sich der Erreger." Mit freundlichen Grüßen an Herrn Tönnies in Rheda-Wiedenbrück... Ebenfalls nicht neu ist der komplexe Corona-Abwägungsprozess zwischen Freiheit und Sicherheit, der uns seit dem 11. September 2001 und den Vorzeichen des weltweiten Terrorismus verstärkt beschäftigt.   

Lange kreisen Booms Vortrag und die Kommunikation mit dem Publikum um die Werbung des Süßwarenriesen Katjes. Großflächige Plakate zeigen aktuell eine ältere Dame, daneben den Slogan: "Jedes Leben zählt." 99 Prozent der Anwesenden, das ergab eine Befragung des Auditoriums durch den Philosophieprof, haben Bauchschmerzen bei dieser Instrumentalisierung der Risikogruppe für Bonbonreklame. Wenn man weiß, was dahinter steckt, verwandelt sich die Verstimmung in Brechreiz. Den "Jedes Leben zählt"-Spruch hatte Katjes ursprünglich für eine 2019er Kampagne vorgesehen. Damals wollte man, freilich mit anderem Motiv, dem Tierschutz durch vegane Herstellungen Rechnung tragen.

Hochinteressant Booms Einschätzung zu den Corona-Bilder aus Norditalien, die maßgeblichen Einfluss auf die eilig getroffenen Schutzvorkehrungen in Deutschland hatten. Zumindest ein Foto, das eine lange Reihe von Särgen zeigt, stammte aus einem ganz anderen Zusammenhang. Die Holzkästen standen 2013 auf Lampedusa und waren für ertrunkene Flüchtlinge bestimmt. Der Fake wurde zwar aufgedeckt, dennoch "prägen diese hochemotionalen Fotos aus den Sozialen Netzwerken unser Bild von der Wirklichkeit".

Mit einer gewichtigen Frage entließ der Bonner Gelehrte seine Gäste: Warum war die Politik bereit, mit beispielloser Entschlossenheit und Härte Maßnahmen zu ergreifen, die die Wirtschaft treffen, sie geradezu kaltstellen? Booms kann nur vermuten: "Vielleicht hat die kollektive Verdrängung des Themas Tod zu einer Panik vor demselben geführt und den Lockdown möglich gemacht."

Nächste "Philosophische Stunde" am 22. September, 19.30 Uhr. Karten an der Museumskasse für 6 Euro. Dank an Dr. Irene Pigulla von der Humperdinck- und Easyapotheke, die die Serie finanziell unterstützt und Booms vom Rhein an die Sieg holte.

Professor Martin Booms

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