vom 25.05.2020

Operation Sommernachtstraum

Wie Hitlers "Wunderwaffe" V1 im Bergischen krepierte

Siegburg. Hinter vorgehaltener Hand sind die nächtlichen Ankünfte der "Geisterzüge" im März 1945 das Tuschelthema im Waldbröler Ortsteil Hermesdorf. Geheimnisvolle Ladungen werden am Bahnhof auf LKW geladen und verschwinden im Forst. Was hier in den letzten Kriegswochen unter strenger Geheimhaltung abläuft, ist die Militäroperation "Oktoberfest", bald umbenannt in "Sommernachtstraum". Der Name der Shakespeare'schen Komödie soll zur Tragödie für die anstürmenden Alliierten werden: Unter dem Sommernachtstraum versteht man den Abschuss der Vergeltungswaffe 1, kurz V1, von den Bergischen Höhen auf das 300 Kilometer Luftlinie entfernte Antwerpen, wichtigster Nachschubhafen der Engländer und Amerikaner.

Wer im Lohmarer Wald unterwegs ist, sieht sie noch, die Betonreste der Startrampen. Diese V1-Stellungen gehen allerdings, da an der heutigen Bundestraße B56 gelegen, nie in Betrieb. Die Abschussorte für die Flugkörper, die über eine Art Riesenkatapult gen Westen geschleudert werden, liegen getarnt in den Nadelwäldern der Nutscheid, nahe Hatterscheid, Kuchem, Rankenhohn und Bornscheid.

Gehen wir vom März 1945 einen Schritt zurück, in den Herbst 1944. Aus der Eifel abgefeuert, sollen die Geschosse Brüssel und den Antwerpener Seehafen erreichen. Die Technik ist unausgegoren. Von 320 Flugbomben weisen 200 technische Mängel auf. Meistens gehen die Wunderwaffen schon 30 Kilometer nach dem Start in die Knie und landen auf den Feldern der Bauern. Die Landbewohner nennen sie "Eifelschreck". Die schon im Oktober 1944 vorangetriebenen Planungen für Abschussbasen im Bergischen Land geraten deshalb ins Stocken. Ungefähr 100 Kilometer müssten die unreifen Raketen über dicht besiedeltes deutsches Territorium fliegen. Kollateralschäden größeren Ausmaßes sind programmiert.

Als sich im Jahr 1945 die Verbände der freien Welt dem Rhein nähern, wird die zuvor verworfene Option real. Die V1 zieht in die Gemeinden Ruppichteroth und Eitorf. Hier wiederholt sich die Problematik des frühzeitigen Niedergangs, im Fachjargon werden die Abstürze als "Donnerschläge" bezeichnet. Deren sechs gibt es im Siegkreis allein zwischen dem 11. und 15. Februar 1945. Betroffen sind Niederpleis, Remschoß bei Neunkirchen, Blankenbach bei Hennef, Lohmar, Birk und Spich. In Lohmar werden acht Personen schwer und 17 leicht verletzt.

Besonders gefährlich sind die ziellos durch die Luft irrenden Kreisläufer. Zeitzeuge Willi Kremer aus Bohlscheid erinnert sich an einen solchen Fehlschuss: "'Alles in Deckung - werft euch in die Furchen', schrie plötzlich Rösgens Marie. Sie hatte wohl an dem Tosen bemerkt, dass eine 'dicke Zigarre', wie die V-Waffe auch genannt wurde, den Kurs veränderte und bereits auf uns zuflog. Normalerweise  flogen die Raketen über den Steimelskopf in Richtung Belgien oder Holland (...). In banger Erwartung und fürchtend, dass der sehr tief fliegende Koloss jeden Moment abstürzen und explodieren könne, lagen 12 bis 15 Feldarbeiter in den Furchen des Ackers." Aus Siegburg, vor allem aus der damals noch nicht zur Kreisstadt gehörenden Braschosser Höhenlage, gibt es gleichlautende Überlieferungen.

Wie waren die Auswirkungen im Zielgebiet der V1, in Antwerpen? Gering. Am 20. März 1945 melden Spione dem Sicherheitsdienst (SD): "Der Hafen von Antwerpen arbeitet jetzt so ziemlich mit voller Kraft. Es ist der bedeutendste Nachschubhafen für die britischen, kanadischen und amerikanische Armeen, die zwischen Köln und Emmerich operieren. Das V1- und V2-Feuer hat wohl ab und zu Schaden angerichtet und Aufenthalt verursacht; doch es ist nicht von ernster Bedeutung gewesen."

Zusatz 1: Produziert werden die V1 und die V2 unterirdisch, in einem Stollenbau in Nordhausen/Thüringen. 60.000 Häftlinge aus dem KZ Dora, einer Außenstelle von Buchenwald, schuften in dem Berg im Südharz. Rund ein Drittel stirbt unter den unmenschlichen Arbeitsbedingungen.

Zusatz 2: Möglicherweise ist die Komplettzerstörung Eitorfs am 8. und am 17. März 1945 durch zwei schwere Bombardements auf die versteckten V1-Stellungen zurückzuführen. Die Alliierten wissen nicht genau, von wo die Geschosse kommen, können den ungefähren Startpunkt aber lokalisieren und nehmen sich deshalb Eitorf vor. 244 Menschen sterben bei den Luftangriffen.

Wer mehr wissen will: Im Jahrbuch des Rhein-Sieg-Kreises 1996 findet sich der Aufsatz von Karl Schröder "Vergeltung aus den Nutscheidwäldern - Hitlers Wunderwaffe V1 im Einsatz rechts des Rheins". Das Stadtarchiv schickt den Artikel auf Wunsch zu. Kontakt unter stadtarchiv@siegburg.de.

Foto (Mischka): Eine ausgegrabene V1 sorgt im November 1994 für Aufsehen in Hönscheid, Gemeinde Eitorf. Unter regem Medieninteresse hält Regierungspräsident Franz-Josef Antwerpes am Fundort eine Pressekonferenz ab.

Kontakt

Stadtverwaltung Siegburg
Nogenter Platz 10
53721 Siegburg

+49 2241 102-0
+49 2241 102-1284
rathaus@siegburg.de
https://siegburg.de

Newsletter

Anmeldung
Jetzt für unseren täglichen Newsletter anmelden.


Newsletter-Archiv

Oben