Der 11. November in der französischen Partnerstadt Nogent-sur-Marne. Der Platz vor dem Rathaus gleicht einem Blumen- und Fahnenmeer. Trompetentöne erinnern um 11 Uhr an den Moment, an dem am gleichen Tag im Jahr 1918 die Waffen schwiegen. Millionen Tote hat der Erste Weltkrieg gekostet, den Bürgermeister Jacques Martin einen "Bürgerkrieg der alten Zivilisationen Europas" nennt. Warum das Gemetzel? "Am Ende wusste das keiner mehr", zitiert Amtskollege Stefan Rosemann Lazare Poticelli, den letzten "Poilu". "Unrasierte" nennen die Franzosen liebevoll ihre Soldaten, die sich entlang des unendlichen Grabensystems den deutsch-österreichischen Kaisertruppen entgegenstemmten. Poticelli starb 2008 im biblischen Alter von 110 Jahren.
Das Siegburger Stadtoberhaupt schüttelt Hände am Fließband. Würdenträger in verwirrender Zahl und Position, vom Unterpräfekten bis zum Minister für ökologische Transformation aus Paris. Vom Fremdenlegionär zum Veteranenverbandsfunktionär. Alle Handschläge drücken die Herzlichkeit der französischen Freunde aus. Die Feinde von einst, Vertraute von heute. Drama mit Happy End.
Die deutsche Nationalhymne ist die erste, die gespielt wird, die amerikanische, die britische und die polnische folgen. Den Schlussakkord setzt die Marseillaise. Die Redner folgen langen historischen Traversen, die beinahe an die Gegenwart heranreichen. Die Ausführungen beginnen im August 1914 und enden im November 2015 im nahen Paris, als islamistische Terroranschläge die Stadt der Liebe in eine Stadt des Hasses verwandelten. Tenor: Wir sind zu allen Zeiten aufgerufen, die Menschenrechte der französischen Revolution zu verteidigen.
Beim späteren Mahl wird aus Französisch Englisch. Derek Bonin-Bree, der schottische Lehrer der internationalen Klasse des Collège Watteau, spießt Lachs und Hühnchen in unserer unmittelbarer Tischnachbarschaft auf. Wir werfen einen doppelten Blick auf die mit sich hadernde Grande Nation, in der Neben- zu Hauptkriegsschauplätzen werden. Der verurteilte Ex-Präsident Nicolas Sarkozy und die prozessualen Bemühungen von Brigitte Macron, sich gegen widerliche Falschbehauptungen im Netz zu wehren, bestimmen die Schlagzeilen.
Darüber gerät die gigantische Staatsverschuldung fast in Vergessenheit. Allgemeines Kopfschütteln über die Kompromisslosigkeit der ganz Linken und ganz Rechten in der Nationalversammlung, die jede noch so kleine Reform verhindern. Bonin-Bree: "Der Transformationsminister, der da drüben sitzt, Mathieu Lefèvre, ist frisch auf seinem Posten. Ich finde ihn sympathisch." Zwischen den Zeilen klingt durch: Mal sehen, wie lange er noch da ist.
Wir halten uns mit Bewertungen vornehm zurück, wie man es auf einem Familientreffen machen sollte, wenn das mitgeschleppte Päckchen unverkennbar auf dem Rücken sitzt. Der politische Rand? Bei uns bekanntlich keine Randerscheinung. Als wir in anderem Zusammenhang berichten, dass man bei Fahrten mit der Deutschen Bahn zu wichtigen Terminen am besten einen Vier-Stunden-Puffer einpackt, sind die Fragezeichen in den Augen unserer Gegenüber unübersehbar. Von der Volkswagen-Erkrankung, um nur eine von zahlreichen ökonomischen Hiobsbotschaften aufzugreifen, hat man jenseits des Rheins gehört und eine leise Vorahnung davon, dass das insgesamt nichts Gutes für die Deutschen heißt.
Als wir nach dem Kurztrip zurückrollen, im Volkswagen, beginnt die typische Nachbereitung des Verwandtenbesuchs. Ein bisschen Abschiedsschmerz. Ein voller Bauch. Ein noch vollerer Kopf. Der, der gerade nicht fährt, sichtet die Fotos auf dem Handy. Stete Ermahnungen: "Wir dürfen nicht vergessen, Jacques zu schreiben, wenn wir zuhause angekommen sind. Er hat mehrfach darum gebeten."
Draußen fliegen die Schilder zum Verlauf der Front von 1914-18 vorbei. Schatten der Vergangenheit. Krieg zwischen Frankreich und Deutschland - zum Glück sehr lange her.

