Michaelsberg

Wenn die Blechtrommel geht

Siegburg. Biergarten. Schwimmbad. Grillen im Garten. Probate Beschäftigungen dieses Sommersamstagabends. Die 160 Ohrenpaare, die im Katholisch-Sozialen Institut gespitzt sind wie der Bleistift eines Musterschülers, haben sich bewusst gegen die Annehmlichkeiten entschieden. Sie stürzen sich in einen fesselnden Strudel der historischen Ereignisse. "80 Jahre Weltkriegsende" - so steht es auf der Eintrittskarte. Schauspieler Roman Knižka liest und lebt zeitgenössische Texte. Die fünf Bläser des Ensembles "Opus 45" schmücken aus, leiten ein, leiten über. Filmmusik zum Untergang, der ein Neuanfang ist. Berlin, Buchenwald, die Siegburger Bergstraße. Rasant schwenkt das Objektiv hin und her. Die Dazwischenzeit von 1945 bis 1949 im Schnelldurchlauf. Packend auf der gesamten Vortragsstrecke von 100 Minuten.

"Ich hatte keine Ahnung, was da oben auf dem Ettersberg passierte", singen die Bewohner von Weimar. Das vier Kilometer entfernte Buchenwald? Für sie eine harmlose Naturbezeichnung. "Dat wussen wi nich", grummeln die wortkargen Heidjer aus Bergen, obwohl sie die Fracht der Züge sahen, die noch kurz zuvor in Belsen entladen und über sandige Waldwege zum Stacheldrahtlager getrieben wurde. Die Nachbarn des Grauenhaften wiederholen das Lied selbst in dem Moment, in dem die Sieger sie mit der Nase auf die Leichenberge stoßen. Alliierte Korrespondenten berichten von einem neuen Text der deutschen Nationalhymne mit dem Refrain "Wir haben von nichts gewusst." "Doch, doch", klagen die Millionen an, die Rassenwahn und Versklavung entkommen sind. "Ihr habt alles gewusst, aber alle nichts getan."
Nichts gewusst? Von Ilse, der Tochter des Huthändlers Michael Fröhlich aus der Kaiserstraße, die sich umbringt, weil die Gesetze ihr verbieten, einen Katholiken zu lieben? Vom Exodus der 400 Mitbürgerinnen und Mitbürger, die eben noch in den Siegburger Einkaufsstraßen Wein oder Hosen verkaufen, bis sie spurlos verschwinden? Widerstand flammt erst am Ende auf, im März 1945. Frauen aus dem Bombenschutzstollen im Michaelsberg marschieren zur Stadtkommandantur, wollen das Kriegsende erzwingen. "Wer mir das Recht gibt, hier zu sprechen? Das Recht geben mir acht tote Familienangehörige!"
"Sie sind doch gar nicht so schlimm." Sagt die Autorin Ruth Andreas-Friedrich zu ihrer Begleitung. Das Paar sitzt in dem, was vom Titania-Palast in Steglitz-Zehlendorf übriggeblieben ist, hört den Berliner Philharmonikern zu, die den eben noch verfemten Sommernachtstraum des Juden Mendelssohn-Bartholdy intonieren. Es ist der 26. Mai 1945, der Saal ist überfüllt. Wer sind die Gar-nicht-so-Schlimmen? Die Amerikaner? Die Zeiten? Hoffnung keimt auf, bald in den Kreis der Kulturvölker zurückzukehren.
Blitzschnell wirbelt das Spotlight herum, richtet sich auf die Angst der jungen Berliner Frauen. Ihre Mütter verstecken sie vor den Vergewaltigern in den kleiner werdenden Kohlebergen. Väter halten missbrauchten Mädchen, die sie nicht zu schützen in der Lage waren, stumm den Strick entgegen. Suizidaufforderung nach unwiederbringlichem Ehrverlust. Erneut ein harter Schnitt. Eine Nachkriegswohnung. Der aus der Gefangenschaft heimgetaumelte Vater liegt mehr tot als lebendig auf dem Chaiselongue und schläft. Tagelang. Dem Kind bleibt der durchdringende Geruch dieses Häufleins Elend in Erinnerung. "Ich hatte vergessen, wofür man einen Vater braucht."
Anfang 1947 ist die Luft sibirisch, die Kartoffelkeller leer. Die bösen Geister der jüngsten Vergangenheit nisten sich ein in knurrenden Bäuchen. Mehr als 50 Prozent der Deutschen glauben, der Nationalsozialismus sei eigentlich eine gute Idee gewesen, die nur hätte anders umgesetzt werden müssen. Was wäre Ilse Fröhlichs Antwort gewesen?
Persilscheine flattern beim Entnazifizierungstheater. Täter werden Lämmer. "Sie haben noch zwei Jahre, nachdem es kompromittierend war, einen Kirchenchor geleitet? Dann sind Sie unbelastet." Die Zeitenwende kommt mit dem Schiff aus der Neuen Welt. 500 Tonnen Banknoten. Deutsche Mark. Der Schmierstoff für das Wirtschaftswunder. Deutschland wird Monarchie. Über Nacht ist der Kunde überall König. Deutschland isst sich satt und wählt demokratisch. Die politischen Ränder sind schmal bei der Bundestagswahl 1949.
Noch eine dieser großartigen Opus-45-Geschichtsstunden im nächsten Jahr? Bestimmt. Es soll an der Schnittstelle von Geschichte, Literatur und Musik um Weimars Ende gehen. Den Wunsch des Wiedersehens sprechen die Künstler aus, er geht an die Gastgeber, "den Stefan" (Rosemann, Bürgermeister) und "den André" (Schröder, kommissarischer Leiter des KSI, die Red.).
Foto: Roman Knižka mit was? Mit der nobelpreistönenden Blechtrommel, die Günter Grass den größtmöglichen Erfolg brachte. Lange verschwieg der Autor seine Mitgliedschaft in der Waffen-SS.

Siegburg. Biergarten. Schwimmbad. Grillen im Garten. Probate Beschäftigungen dieses Sommersamstagabends. Die 160 Ohrenpaare, die im Katholisch-Sozialen Institut gespitzt sind wie der Bleistift eines Musterschülers, haben sich bewusst gegen die Annehmlichkeiten entschieden. Sie stürzen sich in einen fesselnden Strudel der historischen Ereignisse. "80 Jahre Weltkriegsende" - so steht es auf der Eintrittskarte. Schauspieler Roman Knižka liest und lebt zeitgenössische Texte. Die fünf Bläser des Ensembles "Opus 45" schmücken aus, leiten ein, leiten über. Filmmusik zum Untergang, der ein Neuanfang ist. Berlin, Buchenwald, die Siegburger Bergstraße. Rasant schwenkt das Objektiv hin und her. Die Dazwischenzeit von 1945 bis 1949 im Schnelldurchlauf. Packend auf der gesamten Vortragsstrecke von 100 Minuten.

"Ich hatte keine Ahnung, was da oben auf dem Ettersberg passierte", singen die Bewohner von Weimar. Das vier Kilometer entfernte Buchenwald? Für sie eine harmlose Naturbezeichnung. "Dat wussen wi nich", grummeln die wortkargen Heidjer aus Bergen, obwohl sie die Fracht der Züge sahen, die noch kurz zuvor in Belsen entladen und über sandige Waldwege zum Stacheldrahtlager getrieben wurde. Die Nachbarn des Grauenhaften wiederholen das Lied selbst in dem Moment, in dem die Sieger sie mit der Nase auf die Leichenberge stoßen. Alliierte Korrespondenten berichten von einem neuen Text der deutschen Nationalhymne mit dem Refrain "Wir haben von nichts gewusst." "Doch, doch", klagen die Millionen an, die Rassenwahn und Versklavung entkommen sind. "Ihr habt alles gewusst, aber alle nichts getan."

Nichts gewusst? Von Ilse, der Tochter des Huthändlers Michael Fröhlich aus der Kaiserstraße, die sich umbringt, weil die Gesetze ihr verbieten, einen Katholiken zu lieben? Vom Exodus der 400 Mitbürgerinnen und Mitbürger, die eben noch in den Siegburger Einkaufsstraßen Wein oder Hosen verkaufen, bis sie spurlos verschwinden? Widerstand flammt erst am Ende auf, im März 1945. Frauen aus dem Bombenschutzstollen im Michaelsberg marschieren zur Stadtkommandantur, wollen das Kriegsende erzwingen. "Wer mir das Recht gibt, hier zu sprechen? Das Recht geben mir acht tote Familienangehörige!"

"Sie sind doch gar nicht so schlimm." Sagt die Autorin Ruth Andreas-Friedrich zu ihrer Begleitung. Das Paar sitzt in dem, was vom Titania-Palast in Steglitz-Zehlendorf übriggeblieben ist, hört den Berliner Philharmonikern zu, die den eben noch verfemten Sommernachtstraum des Juden Mendelssohn-Bartholdy intonieren. Es ist der 26. Mai 1945, der Saal ist überfüllt. Wer sind die Gar-nicht-so-Schlimmen? Die Amerikaner? Die Zeiten? Hoffnung keimt auf, bald in den Kreis der Kulturvölker zurückzukehren. 

Blitzschnell wirbelt das Spotlight herum, richtet sich auf die Angst der jungen Berliner Frauen. Ihre Mütter verstecken sie vor den Vergewaltigern in den kleiner werdenden Kohlebergen. Väter halten missbrauchten Mädchen, die sie nicht zu schützen in der Lage waren, stumm den Strick entgegen. Suizidaufforderung nach unwiederbringlichem Ehrverlust. Erneut ein harter Schnitt. Eine Nachkriegswohnung. Der aus der Gefangenschaft heimgetaumelte Vater liegt mehr tot als lebendig auf dem Chaiselongue und schläft. Tagelang. Dem Kind bleibt der durchdringende Geruch dieses Häufleins Elend in Erinnerung. "Ich hatte vergessen, wofür man einen Vater braucht."

Anfang 1947 ist die Luft sibirisch, die Kartoffelkeller leer. Die bösen Geister der jüngsten Vergangenheit nisten sich ein in knurrenden Bäuchen. Mehr als 50 Prozent der Deutschen glauben, der Nationalsozialismus sei eigentlich eine gute Idee gewesen, die nur hätte anders umgesetzt werden müssen. Was wäre Ilse Fröhlichs Antwort gewesen?

Persilscheine flattern beim Entnazifizierungstheater. Täter werden Lämmer. "Sie haben noch zwei Jahre, nachdem es kompromittierend war, einen Kirchenchor geleitet? Dann sind Sie unbelastet." Die Zeitenwende kommt mit dem Schiff aus der Neuen Welt. 500 Tonnen Banknoten. Deutsche Mark. Der Schmierstoff für das Wirtschaftswunder. Deutschland wird Monarchie. Über Nacht ist der Kunde überall König. Deutschland isst sich satt und wählt demokratisch. Die politischen Ränder sind schmal bei der Bundestagswahl 1949.

Noch eine dieser großartigen Opus-45-Geschichtsstunden im nächsten Jahr? Bestimmt. Es soll an der Schnittstelle von Geschichte, Literatur und Musik um Weimars Ende gehen. Den Wunsch des Wiedersehens sprechen die Künstler aus, er geht an die Gastgeber, "den Stefan" (Rosemann, Bürgermeister) und "den André" (Schröder, kommissarischer Leiter des KSI, die Red.).

Foto: Roman Knižka mit was? Mit der nobelpreistönenden Blechtrommel, die Günter Grass den größtmöglichen Erfolg brachte. Lange verschwieg der Autor seine Mitgliedschaft in der Waffen-SS.

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