In Sorge beobachtete das gemäßigte Europa die Entwicklungen in den USA. Das Kaninchen vor der Schlange. "Vier Jahre war Zeit, sich vorzubereiten. Vier Jahre verplempert." Sagt Dennis Radtke, am Freitagabend Gastredner beim Neujahrsempfang des Katholisch-Sozialen Instituts auf dem Michaelsberg. Gewerkschafter aus Wattenscheid, einst laut großer Onlineenzyklopädie bei der SPD, seit 2002 CDU. Chef der Arbeitnehmervereinigung CDA, Mitglied des Europäischen Parlaments. Erklärt die Welt ohne Fremdwörter. Herzlich, hemdsärmelig, deutlich und klar, wie es dem Ruhrpottler von Natur gegeben ist.
Unangenehme Wahrheiten regnen. Dem Publikum rutscht der Sekt, der eben noch schön prickelte am Gaumen, nur mühsam die Kehle herab. Haben wir eine Antwort auf die Frage, wie wir mit dem Ende der amerikanischen Unterstützung in der Ukraine umgehen? Wenn sich wiederum Millionen Menschen, die nicht unter der Knute Putins leben wollen, auf den Weg nach Westen machen? Sind die Parteien der Mitte angesichts des Zustimmungsminus' von allen guten Geistern verlassen, wenn sie Koalitionen untereinander ausschließen? Wie wirkt es, wenn ein Ministerpräsident sich entweder in detailreichen Mitteilungen seines Speiseplans auf Instagram oder in der Attacke gegen politische Gegner ergeht, die nach dem 23. Februar die realistischen Partner sind? Frei nach dem Motto: Zehn Sekunden irrer Videoschnipsel auf Social Media sind der beste Wahlkampf? Sehen wir nicht in Holland, in Frankreich, ganz aktuell in Österreich, wohin die unversöhnliche Frontstellung unter Demokarten führt? "In seiner vergangenen Amtszeit als österreichischer Innenminister hat Herr Kickl den Rechtsstaat abgenagt bis auf die Knochen. Westliche Geheimdienste arbeiteten mit Österreichern nicht mehr zusammen, weil die Informationen direkt Richtung Russland wanderten."
Für den 45-Jährigen liegt im Portemonnaie der Hase im Pfeffer. Vormittags hat er sich mit der Kreishandwerkerschaft getroffen. Die Nöte des kleinen Mannes (so sagt heute niemand mehr, obwohl jeder weiß, dass es genügend kleine Männer und kleine Frauen in Deutschland gibt) führen in weit geöffnete Extremistenarme. Die Gesellen, so berichteten ihm die Handwerksmeister, wollen gar nicht viel. "Vielleicht alle zwei Wochen mit der Familie zum Griechen, im Sommer zwei Wochen Mallorca. Wenn das bei acht bis neun Stunden Arbeit am Tag nicht mehr funktioniert, hat das System versagt."
Seine Lösung, mit der er auch in der eigenen Partei aneckt: Mindestlöhne in Europa. Ende von Scheinselbstständigkeiten im Dienstleistungssektor. Maßnahmen gegen bröckelnde Tarifbindung. Wo sie erodiert, glauben immer weniger Menschen an die Heilkraft unserer Staatsform.
Der manuskriptlose Redner fesselt. Der heimlich eingeschaltete Handball-WM-Livestream bleibt ungeguckt, das Handy verschwindet im Sakko. Wenn Radtke am Ende von knapp 45 vollgepackten Minuten schildert, dass sich dank EU in Rumänien Arbeitgeber und -nehmer erstmals auf Augenhöhe begegnen, dann ist es sogar da, das Gefühl, das man beim Aufstieg zum KSI auf den Wahlplakaten gelesen hat. Zuversicht.