Die aus Siegburg stammende Autorin Traudl Bünger bittet zum Museumsgespräch, das auszeichnet, was früher die hochkarätig besetzten Literaturwochen so wertvoll machte: erst Vortrag und dann Diskussion über Fragestellungen, die unmöglich mit dem vereinfachenden Social-Media-Binär-System "Alles gut" oder "Alles schlecht" zu beantworten sind.
Traudl Büngers Vater Heinrich gehört der politischen Rechten an. Im Oktober 1962 tut er zusammen mit Gleichgesinnten etwas, das nur rechtsradikal zu bezeichnen ist. Er lässt eine Bombe in der Gepäckaufbewahrung des Bahnhofs von Verona detonieren. Ein Anschlag, mit dem er die Benachteiligung der Volksdeutschen im italienischen Südtirol brandmarken will. Ein Mensch stirbt. Weltpolitische Verstrickungen führen dazu, dass es erst im Jahrzehnt danach zum Prozess bzw. zu Prozessen kommt. Die Revision vor dem Bundesgerichtshof ist erfolgreich. Die Mühlen der Justiz entlassen Bünger als freien Mann.
Kann man den Vater - er starb 2016 und schwieg bis zuletzt eisern - in einem deutschlandweit beachteten Buch als jemanden kennzeichnen, der eine Bombe legte, Hakenkreuze und NS-Schriften aufbewahrte? Was sagen die im Publikum sitzende Mutter und die Schwester zur Veröffentlichung, die ein Schlaglicht auf das Familiengeheimnis wirft? Nicht zuletzt: Kann man einen solchen Vater lieben? Man kann, wenn man seine Tat plus den zeitlebens vorhandenen Rassismus und sein Familienleben, in dem er auch zugewandt und liebevoll war, trennt. Bünger: "Beide Gefühle existieren. Die Erinnerung lebt von beidem. Das Buch hätte ich ohne den festen Rückhalt meiner Familie nicht geschrieben."
Vielfaches Nicken bei den Zuhörern, mehr noch bei den Zuhörerinnen, die an ähnliche Belastungen und Zwiespalte in der Beziehung zum Erzeuger denken. Menschsein ist nie nur das eine, ist immer auch das andere. Bünger schließt mit einem Auftrittserlebnis. In Ostdeutschland kommt eine Frau nach der Lesung auf sie zu. Sie kenne jemanden, der ganz ähnlich sei. "Als Erzieher kümmert er sich rührend um die Kinder im Kindergarten. Gleichzeitig ist er eingefleischter, glühender Anhänger der AfD."
Traudl Bünger: "Eisernes Schweigen. Das Attentat meines Vaters - eine deutsche Familiengeschichte", Verlag Kiepenheuer & Witsch, ISBN 978-3-462-00490-8.