Nein, es geht nicht um Karneval. Am 11.11.1918 um 11 Uhr unterzeichnet eine Gesandtschaft im historisch bedeutsamsten Eisenbahnwaggon in Compiègne nördlich von Paris den Waffenstillstand für die deutsche Seite. Für sie kommt der Vertrag einer Kapitulation gleich. Der Weltkrieg ist vorüber. Ein mörderischer, bis dato nicht gekannter Krieg unter den Bedingungen des Industriezeitalters. 17 Millionen Tote. Ypern. Verdun. Das Flüsschen Somme. Geografie, an der Blut haftet. Aus altem Leid wird neues wachsen. Das Wort "Urkatastrophe" bringt es auf den Punkt.
In Deutschland überlagern die Erinnerungen an die Nazibarbarei und deren Auswüchse das Schlachten zu Beginn des Jahrhunderts. In der Erinnerungskultur schlägt der Weltkrieg II den Weltkrieg I um Längen. Daran ändert selbst die Netflixwerdung des Remarque-Klassikers "Im Westen nichts Neues" nix. Frankreich fährt dagegen alles auf, was geht. Der 11. November ist nationaler Feiertag.
Gestern, 11 Uhr, heilige Zeit in Nogent. Fremdenlegionäre mit aufgepflanztem Bajonett stehen stramm. Ihnen gegenüber nehmen Mariensoldaten mit spiegelglänzenden Schuhen Haltung an. Schüler tragen die Trikolore, sprechen Gedichte, die wie Gebete klingen. Die Eltern eines jungen Mannes, der für die westliche Allianz in Afghanistan sein Leben ließ, sind da. Sie stehen neben Bürgermeister Jacques Martin. Der kalte Schauer am Rücken, der den Beobachter der Zeremonie befällt, stammt nicht vom Regen, der pünktlich eingesetzt hat. Eine ganze Armada an Kränzen wartet auf Niederlegung am Kriegerdenkmal. Aus dem Lautsprecher die Marseillaise, God save the King, das Lied vom Sternenbanner, das trotz des Wahlausgangs am letzten Dienstag Ehrfrucht hervorruft.
Auch die Einigkeit, das Recht und die Freiheit sind Teil der Playlist. Mitgesungen von Vizebürgermeisterin Britta Pahlenberg, die die Kreisstadt repräsentiert. In ihrer auf Französisch vorgetragenen Rede bricht sie auf zu einer Fahrt entlang der Stätten des Wahnsinns: von der Rüstungsschmiede am Brückberg über die Festungsstadt Köln zur Giftgaswolke über den Feldern Flanderns. Sie begleitet Paul Löwenich, den Siegburger Notabiturienten des Schicksalsjahrgangs 1914. Kriegsfreiwilliger, Tagebuchschreiber, Chronist des Grauens. Ein halbes Jahr vor dem 11. November 1918 verlischt sein Lebenslicht an der Somme in Nordfrankreich. Die Westfront als "hachoir à viande", als Fleischwolf. Die Grabstätte einer ganzen Generation.
Stadtoberhaupt Jacques Martin lässt "Chère Britta" den Vorrang. Sie darf vor ihm sprechen. Er holte vor sechs Jahren die deutschen und die polnischen Freunde dazu. Europa (ge-)denkt seither zusammen. Gott sei Dank! Am Abend vorher spricht Martin beim Abendessen informell über diesen Gott und seine Welt. Dauerthema ist Trump, die neue Richtung der USA. Nogents Bürgermeister hat Freunde an der Ostküste. In diesem Ort, so erzählt er, hätten sie einen Film wegen angeblicher Freizügigkeit abgesetzt. "Puritaner bleiben Puritaner", lächelt er leise in sich hinein. Es ist nicht nur ein vergnügtes Lachen.
"Wenn die Amerikaner nicht mehr wollen, müsst ihr uns verteidigen", werfen wir Siegburger scherzhaft ein, adressieren die Besatzung des Nogenter Patenboots "Antarès" aus Brest in der Bretagne, die mit am Tisch sitzt. Große Augen, lautes Lachen. Galgenhumor am globalen Scheideweg.
Im nachlassenden Regen geht Martin nun in seiner Novemberansprache auf die Spaltung als ewige Kriegsgrundlage ein. Auf den Antisemitismus, der sich wenige Tage zuvor in Amsterdam am Rande eines Fußballspiels Bahn brach. "Passiert in der Stadt des Verstecks der Anne Frank!" Die französischen Medien sind unterdessen voll vom Länderspiel im Stade de France am Donnerstag. Israel ist zu Gast. Die Sicherheitsvorkehrungen sind nach den Amsterdamer Erfahrungen gewaltig.
Schillers "Ode an die Freude" beendet die beeindruckende Demonstration für den Frieden. Alle Menschen werden Brüder, werden Schwestern. Wir können nicht in Köpfe gucken, aber Europas Hymne macht etwas mit den Teilnehmern. Mit dem Soldaten aus Tahiti, der fern der Heimat auf dem französischen Marineboot sein Glück sucht. Mit dem anglofranzösischen Vater, der zufällig mit seiner Tochter zur Festgemeinde stößt und der Sechsjährigen zweisprachig-kindgerecht erklärt, was hier vor sich geht. Dem deutschen Berichterstatter streckt er den erhobenen Daumen entgegen: "Gut, dass ihr dabei seid. Ein positives Signal."
Die Bilder sind mächtig und wirken nach, als es später mit Eurostar und ICE zurückgeht. Erst am Kölner Hauptbahnhof verflüchtigen sie sich. Eine Jugendliche im Engelskostüm hält einem Teufelchen den Kopf über den Mülleimer. Erst Krieg, jetzt das, was zu vorgerückter Stunde an Bahnhöfen vom Karneval übrigbleibt. Ein Tag der Kontraste.
Foto: Nogents Bürgermeister Jacques Martin beugt sich hinab zum Meer der Gestecke. Rechts neben ihm Siegburgs Vizebürgermeisterin Britta Pahlenberg.