Die geplante Friedhofsstunde ist dank deutscher Verspätungsbahn und einsetzender Dunkelheit nur 20 Minuten lang. Wir verabreden uns im Haus der Siegburgerin in der Albertstraße, um in Ruhe, Wärme und Licht mitschreiben zu können. Geschichte der letzten anderthalb Jahrhunderte liegt wie auf dem Silbertablett vor uns - ganz so wie die vorzüglichen Nussecken, die die Gastgeberin anbietet.
Wer ist Peter Lobbenberg? Betrachtet man die dramatische Weltlage zum Zeitpunkt seiner Geburt, ist er in erster Linie ein Glücksind. Geboren wird er am 12. September 1939 als Sohn der deutschen Emigranten Hans und Annemarie Lobbenberg in Edgware, Großraum London. Hier sind er und seine Eltern sicher vor der nationalsozialistischen Verfolgung.
Seine familiären Wurzeln liegen verstreut auf dem Kontinent. Der passionierte Genealoge zeigt Bilder von Kaufhäusern in Berlin und Köln, die seine Vorfahren aufbauten und führten. Er erzählt vom Großvater mütterlicherseits, der in Karlsband praktizierte. Seine Oma väterlicherseits, Fanny Lobbenberg, geborene Levison, ist die Verbindung nach Siegburg, wo sie 1870 geboren wird. "Ich bin also ein Viertelsiegburger", lächelt der 85-Jährige, der die Inkarnation des Oxford-Briten zu sein scheint: kultiviert, zugewandt, humorvoll. In fehlerfreiem Deutsch deutet er auf den Stammbaum, dessen Äste bekannte bis berühmte Namen tragen. Heinrich Heine findet sich, der große Bonner Geschichtsgelehrte Wilhelm Levison ebenso. Als Gastgeschenk hat er das 140 Jahre alte Poesiealbum seiner Siegburger Oma dabei. "Für Sie und Ihr Archiv. Nehmen Sie es gern!"
Setzen wir den Blinker wieder in die Vergangenheit. Lobbenbergs Eltern haben Erfolg auf der Insel, bauen eine gut laufende Korsettfabrik im nordwestenglischen Shrewsbury auf. Der Vater stirbt Mitte der 1950er-Jahre. Als 1971 Mutter Annemarie nach ereignisreichem Leben die Augen schließt, findet ihr Sohn in ihrer Schreibtischschublade 22 Briefe aus der Kriegszeit, die ihn philatelistisch interessieren. "Mein Blick fiel zuerst auf die Briefmarken." Als er sich den Inhalt vornimmt, verschlägt es ihm den Atem. Die Briefe sind an ihn gerichtet. Seine aus Berlin stammende Großmutter Leonie "Lony" Rabl schickt sie ab 1939 dem Enkel Peter. Von Exil zu Exil. Aus Amsterdam nach London.
Die Kreisstadt und ihr jüdischer Freidhof sind nicht das Hauptziel von Peter Lobbenberg. Siegburg liegt für ihn auf dem Weg nach Frankfurt. Im Jüdischen Museum am Bertha-Pappenheim-Platz wird das Leben seiner Großmutter Lony Rabl aufgeführt...
Ein Bild zeigt die 1868 geborene Arztgattin, die selbst nach 1933 nahe der Gedächtniskirche am Kudamm ein Café führt, im eleganten Mantel auf einer Freitreppe. Im Angesicht des NS-Drucks zieht es sie nach Amsterdam. In der Beethovenstraat 9b eröffnet sie ein neues Café, das zum Treffpunkt der jüdischen Flüchtlingscommunity avanciert.
Die Deutschen marschieren ein, die niederländischen Spießgesellen der braunen Machthaber zertrümmern mehrfach das Lokal. Lony zieht sich zurück und schreibt ihrem Enkelsohn, den sie nie zu Gesicht bekommen wird, liebevolle Briefe. Ein Stück heile Welt inmitten des großen Unheils. So meldet sie am 11. Februar 1941 dem kleinen Peter. "Ich zermarterte mir das Hirn, was ich mit der machen würde, wenn du hier wärst. Zuallererst würde ich dir einen Kakao mit Schlagsahne geben und ein Stück Käsekuchen. Wir würden aus dem Fenster sehen und den Menschen, die vorbeigehen, zuwinken. Sie würden zurückwinken zu meinem Jungen mit seinen wunderschönen Haaren. Am Abend würde ich dir ein Bad einlassen, du könntest mit einem kleinen Boot und einem Gummikrokodil, das Wasser speit, wenn man ihm auf den Bauch drückt, spielen. Wenn du abgetrocknet bist, kannst du barfuß ins Bettchen rennen, dich unter die von deiner Urgroßmutter handgemachte Decke kuscheln, und ich würde dir eine Geschichte aus der Zeit erzählen, als deine Mutter klein war."
Lony kann nicht mehr ausreisen. England und Brasilien bleiben ferne Träume. Sie kommt ins Zwischenlager Westerbork, aus dem sie sich Ende Dezember 1943 meldet und nach einem schwarzen Baumwollkleid und einem Kostüm aus Seide fragt. "Es könnte sein, dass ich die Sachen brauche." Mitte Februar 1944 erkundigt sie sich nochmals nach den Textilien. Dann wird sie gen Osten abtransportiert. Erst nach Theresienstadt, dann weiter nach Auschwitz. Der 14. Oktober 1944 ist ihr Todestag.
Peter Lobbenberg fasst zusammen: "Die Briefe hat meine Mutter mir nie gezeigt. Sie wollte nicht, dass ich sie sehe." Doch jetzt leben die ergreifenden Zeilen weiter. Der britische Komponist Ronald Corp hat aus ihnen einen "Song Cycle" für Streichquartett, Mezzosopran und Klavier gemacht, der am 2. Dezember auf besagtem Konzert in Frankfurt auch für deutsche Ohren aufgeführt wurde.
Fotos: Haben sich nie gesehen: Links Leoni "Lony" Rabl, rechts ihr Enkelsohn Peter Lobbenberg.