vom 11.03.2021

Rassismus am Rhein

Vor 100 Jahren explodierten Klischees gegen Schwarze

Siegburg. Hawaii im Jahr 1971. Der verschwitzte Junge legt den Kopf in den Nacken, schützt mit der linken Hand seine Augen vor der sengenden Sonne. Mit dem Zeigefinger der rechten Hand gleitet er über die Namen der Setzliste seines Tennisklubs. "Gegen wen muss ich als nächstes spielen?" Durch die wohlgepflegte Anlage nähert sich ihm ein Mann, ein Mitspieler des Vereins. Der Erwachsene beschleunigt seine Schritte, als er den Jungen wahrnimmt, brüllt zornig: "Hey Kleiner, nimmt sofort die Finger weg, die weiße Tafel wird schmutzig!"

Über sein erstes rassistisches Erlebnis berichtet Ex-US-Präsident Barack Obama im hörenswerten Spotify-Podcast "Renegades", den er zusammen mit dem Musiker Bruce Springsteen aufgenommen hat. Es geht um die Bewegung "Black Lives Matter", um die Hautfarbe als Kernproblematik der amerikanischen Gesellschaft.

Eine radikale Frühform des Rassismus im Rheinland hat Klaus Tervooren untersucht. Der pensionierte Berufsschullehrer sichtete die im Siegburger Stadtarchiv überlieferten Bände 1921/22 des "Nachrichtenblatts", einer von der französischen Besatzung herausgegebenen Zeitung. Das Organ hatte zum Ziel, in deutschen Medien kursierende Falschmeldungen, Übertreibungen und Klischees über die französischen Soldaten am Rhein als solche zu entlarven. Tervooren begab sich hinein in eine Propagandaschlacht, die sich an den Friedensvertrag von Versailles anschloss und auf deutscher Seite den Begriff der "Schwarzen Schmach" hervorbrachte.

Die Mehrzahl der Deutschen fühlte sich nach dem vierjährigen Weltkrieg nicht als Verlierer. Es nutzte nichts: Deutschland bekam die Alleinschuld am Krieg zugewiesen, musste hohe Reparationsleistungen erbringen, Gebiete und Kolonien abtreten und im Rheinland die alliierte Besatzung hinnehmen. Mit den Franzosen kamen 30.000 bis 40.000 schwarze Soldaten ins Land. In Siegburg beispielsweise lag das 28. Tunesische Tirailleur-Regiment.

Zum damals so empfundenen "Diktat"-Frieden gesellte sich die zusätzliche Demütigung, von Farbigen Befehle empfangen zu müssen - kurz zuvor waren Inuit oder andere Menschen ferner Herkunft in Mitteleuropa noch zur allgemeinen Belustigung wie Tiere im Zoo präsentiert worden. 

Tervooren: "Die rassistischen Hetzkampagnen, gegen die das Nachrichtenblatt anging, hatten diverse Ausprägungen, in erster Linie war es die sexuelle Konnotation nach dem Motto 'Die Schwarzen verführen und vergewaltigen unsere Frauen!'" Zahlen über diesbezügliche Übergriffe (es gab in der Tat Anklagen und auch Verurteilungen) wurden stark erhöht, manch ein Vorfall frei erfunden. So gab ein Mädchen aus Jülich an, unterwegs von einem dunkelhäutigen Besatzer angegriffen und eines Pakets beraubt worden zu sein. Es stellte sich heraus: Ihr Schilderungen sollten einen unerlaubten Ausflug vertuschen, während dem das Päckchen verloren ging. 

Der ehemalige Geschichtslehrer Tervooren bleibt in seiner Analyse nicht an der Oberfläche von deutscher Rede und französischer Gegenrede. Er kann nach Durchsicht der Zeitungsartikel erklären, wie es massenhaft zu sexuellen Anschuldigungen kommen konnte. Ein Hauptgrund war die weit verbreitete Prostitution, die wiederum der Armut der Bevölkerung geschuldet war. In einem Wäldchen bei Siegburg, so berichtet das Nachrichtenblatt vom 9. September 1922, sei es zum Verkehr einer Frau mit einem farbigen Soldaten gekommen. Dabei stand der Ehemann Posten und "ließ sich die Gefälligkeiten bezahlen", agierte als Zuhälter. Das Bonner Landgericht verurteilte den Mann zu zwei, die Frau zu einem Jahr Gefängnis.

Weitere Vorwürfe bezogen sich auf die angebliche Verbreitung von Krankheiten durch die Afrikaner in Diensten der Franzosen. Das Nachrichtenblatt versuchte mit dem Verweis auf die Spanische Grippe und ihre globalen Auswirkungen zu kontern. Tervooren: "Man deutete zu Recht hin auf die Parallelen zum Mittelalter, in dem die Juden als Auslöser der Pest-Epidemien gegeißelt wurden."

Foto: Klaus Tervooren im großen Sitzungsaal des Siegburger Rathauses. Im Hintergrund das Rathaus der Siegburger Partnerstadt Nogent-sur-Marne. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das vergiftet Klima zwischen Deutschen und Franzosen von Freundschaft abgelöst.

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