vom 06.06.2020

Wundersame Heilung nach Odyssee

Als Siebenjähriger in vorderster Front verwundet

Siegburg. Letzter Teil unser Zeitzeugenserie 75 Jahre nach dem Weltkriegsende. Wir schließen mit Peter Del Din (Foto), geboren am 30. Januar 1938. Beim Einmarsch der Amerikaner in Siegburg wird er, zwischen Mutter und Großmutter auf der Dammstraße liegend, schwer verwundet. Von einer deutschen Granate. Für den Jungen, seine Mutter und Großmutter beginnt eine Odyssee auf der Suche nach medizinischer Versorgung, immer hart an der Frontlinie, die sich ein Hollywoodregisseur nicht besser hätte ausdenken können. Die Geschichte geht gut aus. Um es mit dem Arzt zu sagen, den die Familie schließlich erreich: "Jeden Tag passieren Wunder." Hier Peter Del Dins Bericht in voller Länge.

"Anfang 1945 mussten wir - meine Großmutter Christine Klein, meine Mutter Josefine Del Din und ich - unsere Wohnung in der Marienhofstraße 10 verlassen, weil sie in einem Bereich der Buisdorfer Brücke lag, der durch die mögliche Sprengung dieses Siegübergangs beeinträchtigt werden konnte. Die Sprengung war vorbereitet und wurde später auch durchgeführt, um das Vorrücken der amerikanischen Truppen zu stoppen.

Wir zogen mit einem voll bepackten Leiterwagen in Richtung Siegburg, blieben in der Wolsdorfer Straße, wo uns Frau Hurtz einen Kellerplatz anbot.

Am 9. April 1945 klopften nachmittags amerikanische Soldaten an die Haustür und machten uns klar, dass wir zu unserer eigenen Sicherheit das Haus verlassen müssten. Wir durften nichts mitnehmen, nicht einmal eine Handtasche. Die Amerikaner zogen in Kampfbereitschaft von Buisdorf kommend gegen Siegburg, wobei die Kleibergstraße ein Teil der Trennlinie zwischen deutschen und amerikanischen Soldaten war.

Die Deutschen beherrschten vom Michaelsberg aus die Gegend um Wolsdorf. Hier stand u.a. auf der Höhe des heutigen Altenheimes ein Vierlingsgeschütz.

Auf unserem Weg in Richtung Phrix - früher Zellwolle - mussten wir uns anfangs der Dammstraße erstmals niederlegen, weil die Deutschen unseren Bereich mal wieder unter Beschuss nahmen. Ich lag zwischen meiner Großmutter und meiner Mutter bäuchlings auf der Straße. Als auf Zuruf eines Amerikaners meine Mutter meinte, wir können weitergehen, sagte ich, dass ich verwundert sei und nicht mehr laufen könnte. Auf den Hilferuf meiner Mutter robbte ein amerikanischer Soldat zu uns und legte mir im Rücken einen Notverband an. Den Einschuss an der rechten Hüfte bemerkte er nicht!

Wir mussten weiter in Richtung Phrix, wobei meine Mutter vor der Wahl stand, mich liegen zu lassen oder zu tragen. Sie trug mich. Die anfängliche Betäubung nach dem Splitterdurchschuss, den ich erlitten hatte, nahm ab. Die Verletzung fing an zu schmerzen. Bis dahin hatte ich beinahe nichts gemerkt. Nur so viel, als hätte mir jemand einen warmen Streifen auf dem Rücken gelegt.

Hinter der Pförtnerhalle zum Phrixgelände befand sich ein offener Schuppen, in dem die Zivilisten aus dem Kampfgebiet zunächst untergebracht wurden. Hier passierte ein bemerkenswertes Gespräch, das meine Großmutter begann: "Die hann uns he zosamme jedrewe un scheeßen uns jetz all kapott." Hierauf sagte ein amerikanischer Soldat in einwandfreiem Deutsch: "Liebe Frau, die einzigen, die hier schießen, sind ihre eigenen Landsleute. Von uns haben sie nichts zu befürchten."

Ich bekam von ihm einen dicken Wattebausch auf den Rücken gelegt, weiter ging es Richtung Siegburg. Auf der Dammstraße, eingangs der Riembergstraße, wurden wir erneut stark beschossen, ohne dass meines Wissens nach jemand verletzt wurde. 

Von der Dammstraße wurde ich dann in die Wohnung Paulus an der Wahnbachtalstraße gebracht. Die Amerikaner übernahmen meine weitere Betreuung. Diese bestand darin, mich auf eine umgedrehte Bank zu legen und von deutschen Kriegsgefangenen zu den Siegwiesen oberhalb des Wehres tragen zu lassen. Hier befand sich ein provisorischer Übergang über den Fluss. Ich sollte in ein amerikanisches Militärlazarett nach Buisdorf gebracht werden; dazu kam es nicht.

Neuer Beschuss der Deutschen setzte ein. Die Träger und die Amerikaner brachten sich blitzartig in Sicherheit, ließen meine Mutter und mich auf der Wiese allein. Um uns herum schlugen Granaten ein. Graspflöcke und Erde stürzten auf uns. Meine Mutter legte sich zu meinem Schutz auf mich, hielt so das meiste von mir ab.

Den Deutschen gelang es, den Steg über die Sieg zu zerstören. Nach Ende des Granatenbeschusses wollten die Amerikaner uns mit einem Boot übersetzen. Das aber wurde von meiner Mutter energisch abgelehnt. Ich kam zurück in die Wohnung Paulus, von da in den Bunker in der Riembergstraße.

Am späten Nachmittag machte meine Mutter sich auf den Weg zu dem Lagerplatz der Amerikaner, der sich dort befand, wo heute die Tennisplätze neben dem Alpenhaus angelegt sind. Ein amerikanischer Arzt kam auf meine Mutter zu und fragte sie, ob sie verwundet sei, weil sie von oben bis unten voller Blut war. Sie verneinte dies, verwies auf mich. Sofort machte sich der Arzt mit meiner Mutter auf den Weg zum Bunker.

Ich erinnere mich noch genau, wie er, als er mich sah, seinen Stahlhelm auf die Erde schmiss. Seine Untersuchung machte zum ersten Mal deutlich, dass ein Granatsplitter in meinem rechten Oberschenkel eingedrungen und im Rücken oberhalb des Pos wieder ausgetreten war. Er konnte nach der Notversorgung nur raten, mich sofort ins Buisdorfer Militärlazarett zu bringen. Nur hier könne z.B. eine Röntgenuntersuchung stattfinden. Auch verfügten sie dort über Penicillin, das es im Siegburger Krankenhaus noch nicht gäbe. Meine Mutter lehnte das unter Hinweis auf des Geschehen vor nicht allzu langer Zeit ab.

Daraufhin machte der Arzt meiner Mutter klar, dass Siegburg noch umkämpft war. Sie könne nur dann mit mir nach Siegburg hinein, wenn sie vier Sanitäter und eine fahrbare Krankenkarre auftreiben könne.

In der Marienstraße wohnte der Sanitäter Klingenberg. Ich weiß nicht wie, aber Mutter hat ihn trotz aller Kriegswirren ausfindig gemacht. Er ist - wie auch immer - nach Siegburg rein und kam mit dem erforderlichen Gefährt und den Sanitätern am anderen Morgen zurück zu uns.

Inzwischen hatte meine Mutter mich bis zum Haus Schreckenberg - Ecke Marienhofstraße/Wolsdorfer Straße - gebracht und dort auf einen Küchentisch gelegt. Durch das Fenster konnte sie sehen, wie ein Amerikaner sich das draußen abgestellte Krankentransportgerät aneignete und im Begriff war, mit diesem abzuziehen. Meine Mutter lief raus, ergriff den voll bewaffneten Mann und zog ihn hinter sich her in die Wohnung. Der arme Mensch war so überrascht von der Kraft und dem Mut der Frau, dass er keinen Widerstand leistete und sich quasi willenlos mitreißen ließ. Als er mich aber auf dem Tisch liegen sah, gab er nur ein kurzes O.K. und fort war er, natürlich ohne das Gefährt.

Ein Sanitäter voraus mit Rotkreuzfahne, einer zur jeweiligen Seite und einer, der die Karre schob, auf der ich lag, machten sich, meine Großmutter im Schlepptau, auf den Weg zum Siegburger Krankenhaus.

Den ganzen Weg konnte ich noch von der Bahre aus verfolgen, indem ich die Decke anhob, die über mich gelegt worden war.

An der Ecke Grimmelsgasse/Kleiberg standen drei junge Soldaten und ein Offizier. Meine Großmutter forderte sie in ihrem Wolsdorfer Dialekt auf, ihre Waffen niederzulegen und so schnell wie möglich zu verschwinden. Bevor die Soldaten reagieren konnten - vielleicht hatten sie meine Großmutter auch nicht verstanden - hatte ein Sanitäter meine Großmutter zurückgezogen und sie darauf hingewiesen, dass das Kriegsbesetzung sei und sie sich wie alle übrigen in größte Gefahr brächte.

Nach der ärztlichen Versorgung kam ich in den Keller des Krankenhauses und wurde zu Maria Clarenz ins Bett gelegt. Frau Clarenz war die Miteigentümer des Hotels zum Siegblick und die Schwester meines späteren Chefs und Oberkreisdirektors Josef Clarenz. Sie hatte einen Arm- oder Beinbruch.

Mein Krankenhausaufenthalt dauerte sechs Wochen und war von unterschiedlichen Ereignissen begleitet, von denen ich nur zwei herausstelle. Erst nach mehreren Tagen hatte ich Stuhlgang. Das führte zur Sensation auf der Kinderstation. Die Ordensschwester musste aus der Krankenhauskapelle geholt werden und in ihrem Beisein, vermutlich war auch ein Arzt und eine weltliche Schwester dabei, konnte ich, auf dem Bauch liegend, mein Geschäft machen, was von heftigem Weinen und zahlreichen Streicheleinheiten der Ordensschwester begleitet wurde. Wenn das an diesem Tage nicht passiert wäre, so hatte man meiner Mutter und meiner Großmutter vorausgesagt, wäre ich am nächsten Tag gestorben.

Im weiteren Verlauf schloss sich der Wundkanal nicht, was den Chefarzt Dr. Steber zu der Prognose veranlasste, in Kürze eine Verpflanzung vornehmen zu müssen. Kaum hatte er das gesagt, fing die Wunde an zuzuwachsen. Sein Ausspruch bei einer späteren Visite: "Hier passiert jeden Tag ein Wunder."

Bei meiner Entlassung aus dem Krankenhaus konnte ich noch nicht wieder laufen. Also wurde ich von meiner Mutter im Kinderwagen nach Hause gefahren. Meine Begleiter waren zahlreiche Kinder aus der Nachbarschaft. In der Marienhofstraße gab es für alle Kuchen.

Mein Vater Franz Del Din und mein Großvater Peter Klein kamen bis zum Sommer 1945 aus Kriegsgefangenschaft und waren überrascht, dass wir zu Hause mehr erlebt hatten als sie - der eine in Russland, der andere beim Volkssturm.

Nach mehreren Anträgen, Einsprüchen, Vorsprachen und Untersuchungen wurde meine Kriegsverletzung am 15. Juli 1953 als solche anerkannt. Bewilligt wurde mir bei einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 30 Prozent eine Rente von 15 DM. Von der Nachzahlung in Höhe von 450 DM durfte ich mir mein erstes Fahrrad, ein Rabeneik, kaufen.

Del Din

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